Ist Lesen politisch? Warum Liebesromane mehr als Unterhaltung sind

Lesen — für vie­le Men­schen eine Flucht aus einer Welt, die mit jedem Tag beängs­ti­gen­der wird. Dank Book­Tok wer­den ins­be­son­de­re spi­cy Lie­bes­ro­ma­ne immer belieb­ter, eig­nen sie sich doch per­fekt, um für ein paar Stun­den abzu­schal­ten. Doch wäh­rend der US-Wahl 2024 bran­det in der Buch-Com­mu­ni­ty eine berech­tig­te Debat­te auf: Ist Lesen poli­tisch oder doch nur zum Ent­span­nen gedacht?

Sports- oder Dark Romance könn­ten auf den ers­ten Blick nicht unpo­li­ti­scher sein, doch selbst die­se Gen­res trans­por­tie­ren Bot­schaf­ten: über Lie­be, Bezie­hun­gen, Macht und gesell­schaft­li­che Nor­men. Jede Geschich­te, die wir lesen, formt unser Welt­bild, mal sub­til, mal offen­sicht­lich — und nicht nur das: Auch unse­re Kauf­ent­schei­dun­gen sind nicht so neu­tral, wie wir denken.

In die­sem Arti­kel erfährst du, wie­so auch Lie­bes­ro­ma­ne poli­ti­sche Bot­schaf­ten ent­hal­ten, wel­che Wir­kung Geschich­ten auf unser Wer­te­sys­tem haben und wie du mit dei­nen Kauf­ent­schei­dun­gen poli­ti­schen Ein­fluss neh­men kannst.

Ist Lesen politisch? Warum auch Liebesromane mehr als Unterhaltung sind

Ist Lesen politisch?

Ist Lesen poli­tisch? — Um eine Ant­wort auf die­se Fra­ge fin­den zu kön­nen, müs­sen wir zunächst ein­mal defi­nie­ren, was „poli­tisch“ in die­sem Zusam­men­hang eigent­lich bedeu­tet. Poli­tik ist näm­lich nicht nur das, was in lan­gen Sit­zun­gen bespro­chen und abge­stimmt wird. Poli­tik beginnt bei uns. Mit­ten in der Gesell­schaft. Poli­tisch zu sein bedeu­tet, sich aktiv mit gesell­schaft­li­chen Wer­ten, Nor­men und Macht­ver­hält­nis­sen aus­ein­an­der­zu­set­zen und sich dies­be­züg­lich eine eige­ne Mei­nung zu bilden.

Auch Lie­bes­ro­ma­ne tra­gen die Mei­nungs­bil­der ihrer Zeit wei­ter. Das war schon bei Jane Aus­ten so, die mit ihren Wer­ken die gesell­schaft­li­chen Zwän­ge ihrer Epo­che auf sub­ti­le Wei­se hin­ter­frag­te, und auch unse­re moder­nen Lie­bes­ro­ma­ne machen da kei­ne Aus­nah­me. Autor:innen prä­gen mit ihren Büchern unse­re Ide­al­vor­stel­lun­gen — von Lie­be, von Part­ner­schaft, von Unabhängigkeit.

Wie Liebesromane politische Botschaften transportieren

Auf den ers­ten Blick ist es nicht immer deut­lich, weil die meis­ten Lie­bes­ro­ma­ne nicht unpo­li­ti­scher wir­ken könn­ten – doch gera­de dar­in liegt ihre Kraft. Die sub­ti­len Bot­schaf­ten, die uns zwi­schen den Zei­len begeg­nen, prä­gen oft unbe­wusst unse­re Ansichten.

Geschlechterrollen und Machtstrukturen

Gera­de im Bezug auf Dark-Romance-Bücher kommt es immer wie­der zu Dis­kus­sio­nen über die Ver­herr­li­chung toxi­scher Bezie­hungs­mus­ter, aber auch ver­meint­lich harm­lo­se­re Lie­bes­ro­ma­ne kön­nen Tro­pes benut­zen, die frag­wür­di­ge Macht­struk­tu­ren und über­hol­te Geschlech­ter­rol­len unter­stüt­zen.

In vie­len Lie­bes­ge­schich­ten herrscht ein im ech­ten Leben gefähr­li­ches Macht­ge­fäl­le vor, in dem der männ­li­che Part die Über­hand hat. Mal ist er ein fins­te­rer Mafio­si, mal der neue Boss, mit dem die Prot­ago­nis­tin erst ein paar Tage zuvor einen One-Night-Stand hat­te. In den meis­ten Büchern gibt es ein Hap­py End — immer­hin ist unse­re Prot­ago­nis­tin „not like other girls“ und bekommt das „prin­cess treatment“.

Doch wie Sta­tis­ti­ken zei­gen, sieht die Rea­li­tät oft ganz anders aus: Gewalt in der Bezie­hung oder Beläs­ti­gung am Arbeits­platz sind kei­ne Seltenheit.

Indem Macht­ge­fäl­le in Lie­bes­ro­ma­nen wei­ter­hin roman­ti­siert wer­den, nor­ma­li­sie­ren Frau­en ihre nega­ti­ven Erfah­run­gen unter Umstän­den eher, als wenn sie mehr über moder­ne Bezie­hun­gen auf Augen­hö­he lesen würden.


Tipps für Autor:innen

Du möch­test trotz­dem ein Macht­ge­fäl­le schrei­ben? Viel­leicht drehst du den Spieß mal um und gibst der Frau eine Macht­po­si­ti­on? Ist dir nicht “klas­sisch” genug? Dann über­le­ge doch statt­des­sen, wie du das Gefäl­le auf ande­re Art wie­der aus­glei­chen kannst: Er ist ein Mafio­si, aber sie hat im Bett die Hosen an? Er ist ihr neu­er Boss, aber sie weiß etwas über ihn, das ihn zer­stö­ren könn­te? Mit ein biss­chen Krea­ti­vi­tät fin­dest du mit Sicher­heit Wege, Bezie­hun­gen auf Augen­hö­he zu vermitteln.


Feminismus und Spice

Wir alle wol­len Geschich­ten über star­ke, inspi­rie­ren­de Frau­en lesen. Wenn die­se dann auch noch ein erfüll­tes Lie­bes­le­ben haben, umso bes­ser. Doch kön­nen Lie­bes­ro­ma­ne mit ero­ti­schen Ele­men­ten über­haupt femi­nis­tisch sein oder schließt sich das von vorn­her­ein aus?

Spi­ce kann — und soll­te! — auch femi­nis­tisch funk­tio­nie­ren. Offen über Sex zu spre­chen, sich wei­ter­zu­bil­den und die eige­nen Fan­ta­sien in einem siche­ren Raum zu ent­de­cken, ist etwas, das ohne die Arbeit vie­ler femi­nis­tisch den­ken­der Men­schen gar nicht mög­lich wäre. Dass wir heu­te im Zug sit­zen und sei­ten­lan­ge Sex­sze­nen getarnt hin­ter einem süßen Comic-Cover lesen kön­nen, ist ein gro­ßer Fortschritt.

Gleich­zei­tig müs­sen wir auch hier auf­pas­sen, kei­ne toxi­schen Bezie­hungs­mus­ter zu roman­ti­sie­ren. Das funk­tio­niert, in dem deut­lich abge­grenzt wird, was eine Fan­ta­sie ist. Manch einer wür­de nun sagen: „Aber ein Buch ist doch auto­ma­tisch eine Fan­ta­sie.“ — und das stimmt. Bedingt. Denn wäh­rend Schwert­kämp­fe und Dra­chen­rit­te aus Fan­ta­sy­ro­ma­nen für uns kom­plett am Leben vor­bei­ge­hen, sind toxi­sche Bezie­hun­gen lei­der immer noch für vie­le Men­schen bit­te­rer Alltag.

In dem wir mit posi­ti­vem Bei­spiel vor­an­ge­hen und toxi­sche Mus­ter auf­de­cken oder zumin­dest benen­nen (z.B. in einer Con­tent War­nung), nor­ma­li­sie­ren wir sie nicht län­ger und kön­nen ande­re Men­schen so aktiv dabei unter­stüt­zen, Abstand von die­sen Bezie­hun­gen zu nehmen.


Tipps für Autor:innen

  • Nut­ze Con­tent War­nun­gen nicht nur für die ver­meint­lich hef­ti­gen Din­ge in dei­nem Lie­bes­ro­man, son­dern nor­ma­li­sie­re auch, ein paar Wor­te über den Gehalt an Spi­ce in dei­nen Büchern zu ver­lie­ren. Damit hilfst du Leser:innen, Eltern und Buchhändler:innen, dei­ne Geschich­te bes­ser ein­schät­zen zu kön­nen, was vor allem für den Jugend­schutz von Vor­teil sein kann.
  • Wenn du in dei­nem Lie­bes­ro­man ero­ti­sche Fan­ta­sien erkun­den möch­test, die abseits vom Main­stream sind, lass dei­ne Protagonist:innen vor­her dar­über reden und Gren­zen abste­cken. Nicht nur Safe-Words sind wich­tig, zu einer gesun­den Bezie­hung gehört auch ein Aus­tausch auf Augen­hö­he über die eige­nen Vor­lie­ben und Wünsche.
  • Was im Schlaf­zim­mer pas­siert, bleibt im Schlaf­zim­mer — Wenn dein Prot­ago­nist im Bett eher domi­nant ist, glei­che das doch ein­fach an ande­ren Stel­len dei­ner Geschich­te aus, in dem er dort beson­ders femi­nis­tisch handelt.

Diversität und Repräsentation

Wer darf eigent­lich wel­che Geschich­te erzäh­len? Und wel­che Cha­rak­te­re sind einer Lie­bes­ge­schich­te „wür­dig“? Auch das ist etwas, was sich durch die Arbeit vie­ler inspi­rie­ren­der Men­schen in den letz­ten Jah­ren zum Bes­se­ren ver­än­dert hat. Die Men­ge an mar­gi­na­li­sier­ten Stim­men auf dem deut­schen Buch­markt ist zwar immer noch nicht groß im Ver­gleich zum Rest, aber wenigs­tens wachsend.

Auch das ist poli­tisch — die Ent­schei­dung von Ver­la­gen, mehr auf Diver­si­tät und Reprä­sen­ta­ti­on zu set­zen, und die Ent­schei­dung von uns Leser:innen, die­se Stim­men mit unse­rem Kauf zu unter­stüt­zen. Die Bücher, die wir lesen, soll­ten reprä­sen­ta­tiv für die Welt sein, in der wir leben — und die­se ist nun mal nicht rein weiß, hete­ro, able-bodi­ed und gesund. 

Indem wir den Weg für viel­fäl­ti­ge­re Stim­men öff­nen, sor­gen wir nicht nur dafür, dass sich mehr Men­schen mit unse­ren Geschich­ten iden­ti­fi­zie­ren kön­nen — wir hel­fen auch dabei, Bewusst­sein für Erfah­run­gen ande­rer zu schaf­fen, und Empa­thie zu stärken.


Tipps für Autor:innen

Es ist schön, wenn du mehr Diver­si­tät in dei­ne Geschich­ten ein­bau­en möch­test! Damit du kein fal­sches Bild erschaffst, soll­test du dich vor­ab gründ­lich infor­mie­ren und dei­nen Text einem Sen­si­bi­li­ty Rea­ding unter­zie­hen las­sen, inso­fern du nicht selbst von dem The­ma betrof­fen bist.

Im Inter­net gibt es außer­dem eini­ge wirk­lich gute Anlauf­stel­len, die dir dabei hel­fen, sen­si­bel mit die­sen The­men umzu­ge­hen, z.B.

Vic­to­ria Lin­nea
Katha­ri­na Seck (ins­be­son­de­re auf Insta­gram)
sensitivity-reading.de


Warum Geschichten unsere Werte prägen

Stu­di­en zei­gen: Wer viel liest, ent­wi­ckelt stär­ke­re empa­thi­sche Fähig­kei­ten. War­um? Weil wir uns mit den Haupt­fi­gu­ren in einer Geschich­te iden­ti­fi­zie­ren — das bedeu­tet, wir schlüp­fen für eine bestimm­te Zeit in ihre Haut und erle­ben alles mit, als wür­de es uns selbst zusto­ßen. Dadurch ler­nen wir als Leser:innen, die Welt mit ande­ren Augen zu sehen. Ein Lie­bes­ro­man mit quee­ren, unter­stüt­zungs­be­dürf­ti­gen oder ein­fach auch anders den­ken­den Figu­ren kann also Vor­ur­tei­le abbau­en und Ver­ständ­nis för­dern – oft mehr als jede Debat­te im ech­ten Leben.

Mit ihren Geschich­ten inspi­rie­ren und bil­den uns Bücher. Sie regen zum Nach­den­ken an — über Lie­be, Kon­flik­te, Bezie­hun­gen und vie­les mehr. Lie­bes­ro­ma­ne kön­nen dazu bei­tra­gen, gesun­de Bezie­hun­gen zu för­dern und damit auch für mehr Gleich­be­rech­ti­gung ste­hen. Wel­che Nar­ra­ti­ve wäh­len wir, wel­che igno­rie­ren wir — und was sagt das über uns aus?

Die Macht der Kaufentscheidung

Wie du siehst, ist selbst das Lesen von Lie­bes­ro­ma­nen poli­ti­scher, als es auf den ers­ten Blick scheint. Mit unse­rer Kauf­ent­schei­dung kön­nen wir den Buch­markt aktiv mit­be­stim­men. Wel­che Stim­men för­dern wir? Wel­che Ver­la­ge? Lesen wir nur das, was uns Best­sel­ler­lis­ten und Book­Tok vor die Nase hal­ten oder schau­en wir auch mal über den Tel­ler­rand und las­sen uns von mar­gi­na­li­sier­ten Stim­men ver­zau­bern? Wol­len wir ein Bücher­re­gal, in dem jedes Buch dem ande­ren gleicht, oder möch­ten wir, dass es so bunt ist wie das Leben selbst?

Mit ein biss­chen mehr Bewusst­sein kön­nen wir aktiv dazu bei­tra­gen, mehr Diver­si­tät und Gerech­tig­keit in der Lite­ra­tur zu för­dern — und damit letz­ten Endes auch im ech­ten Leben. 

Wel­che Lie­bes­ro­ma­ne haben dich zuletzt zum Nach­den­ken gebracht? 

Lass es mich in den Kom­men­ta­ren wissen!

Weitere Blogartikel

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Bitte füllen Sie dieses Feld aus.
Bitte füllen Sie dieses Feld aus.
Bitte gib eine gültige E-Mail-Adresse ein.
Sie müssen den Bedingungen zustimmen, um fortzufahren.

WordPress Cookie Hinweis von Real Cookie Banner